Die Geschichte des Waldhaus-Zentrum in Lützelflüh

Es war einmal…

Lützelflüh, das sehr alte Dorf auf den „lützeln“, d.h. kleinen Flühen, ist alemannischen Ursprungs. 1125 wird es als „Lucelfluo“ erstmals urkundlich erwähnt. Als Waldhaus wird der ganze Weiler bezeichnet, der nordöstlich des Dorfes liegt und rund 30 bis in die jüngste Vergangenheit meist landwirtschaftlich genutzte Liegenschaften umfasst. 

Die Geschichte des Platzes, den wir heute gemeinschaftlich bewohnen, reicht zurück bis ins Mittelalter. Sie beginnt mit einem gewissen Peter Bärtschi, der 1428 nach Waldhaus zog. Während mehreren Jahrhunderten wird der Hof von der Besitzerfamilie Bärtschi betrieben. 

Von der Stierzucht zur Dahlienschau

Ende des 19. Jahrhunderts gibt es in der Familie fünf Geschwister, welche die Liegenschaft mit berühmter Stierzüchterei und einer weithin bekannten Baumschule mit Baumwachsfabrikation bewirtschaften. 1898 wird gegenüber dem Hof ein Wohn- und Gästehaus erbaut, um den von weit her anreisenden Baumschulbesucher:innen eine Unterkunft zu bieten. Es ist das heutige Haupthaus mit seinem auffälligen Türmchen. Mit der Glocke auf dem Dachfirst werden die auf den umliegenden Feldern verstreuten Arbeiter:innen jeweils zum Essen gerufen. 

1903 wird das grosse Saalgebäude zwischen Bauernhof und Haupthaus fertiggestellt. Im Erdgeschoss, wo sich heute unser Bistro befindet, sind Kavalleriepferde untergebracht.
Etwas später dient der Raum als Lagerkeller und als erster Ausstellungsraum für die ab 1923 jährlich organisierte Dahlienschau. Der Saal wird während Jahrzehnten für verschiedene festliche Anlässe wie Hochzeiten, Musik- und Tanzveranstaltungen genutzt. 

Das obere der beiden freistehenden “Teichhüsli” wird um das Jahr 1920 als Gärtnerhäuschen gebaut. Das untere mit dem markanten Spitzgiebeldach folgt in den 60er-Jahren. Die an die beiden Häuschen angeschlossenen Gewächshäuser werden bis zum Verkauf der Liegenschaft für die Dahlienzucht genutzt.

Die Ära Lütolf

1984 verkauft die Familie Bärtschi-Brändli das Haupthaus, das Saalgebäude und die beiden erwähnten Nebengebäude mit den dazugehörigen Gewächshäusern an die Familie Lütolf, um sich fortan ganz auf die Dahlienkulturen und die seit 1923 jährlich jeweils von Mitte August bis Mitte Oktober stattfindende Dahlienschau mit Festhütte zu spezialisieren. 

Die Familie Lütolf hat innovative Pläne mit ihrem neuen Heim: Zuerst wird renoviert und ausgebaut. Dabei werden vorwiegend biologische Baustoffe und Farben verwendet, was für diese Zeit noch sehr unüblich ist. 

Im Terrassenbau vor dem Haupthaus, der bisher als Garage und zur Baumwachsfabrikation gedient hat, wird ein Makrobiotischer Lebensmittelgrosshandel eingerichtet. Im Erdgeschoss, also in den Räumen der ehemaligen Wirtschaft zum Waldhaus, entsteht ein vegetarisches Selbstbedienungsrestaurant mit grossem Kinderspielplatz – ein tolles Ausflugsziel für Familien mit Kindern. Einige dieser Spielgeräte wie das grosse Laufrad oder der Drehteller sind bis heute intakt und werden weiterhin freudvoll benutzt. 

Im ersten Obergeschoss richtet Caspar Lütolf das Büro seines «Arbeitskreis Lebensenergie» ein. Im neuen Anbau Nord sind die Mitarbeitenden untergebracht, die Westseite wird von einer Tochter mit ihrer Familie bewohnt und im neuen Dachgeschoss leben Caspar Lütolf und seine Frau Thea. Die beiden haben weitreichende Ideen für die Nutzung der Liegenschaft: Die Garten- und Gewächshäuser sollen renoviert und erweitert werden und als Station für die Erforschung des Einflusses von Farben auf das Wachstum von Pflanzen dienen. Leider sind die Widerstände gegenüber diesen neuartigen, ortsunüblichen Vorhaben so gross, dass das ganze Projekt mit dem vegetarischen Familienrestaurant in der Region nicht wie erhofft Fuss fassen kann.

Das Seminarzentrum Waldhaus

Ab 1989 stehen die Gebäude darum weitgehend leer. Der Schwiegersohn Donald Specht schafft es nun, der Besitzerfamilie Lütolf die Idee eines Seminarzentrums schmackhaft zu machen. Gemeinsam mit Gatha Oltariow gründet er im Frühjahr 1991 das Waldhaus Zentrum Lützelflüh. Mit grossem Unternehmergeist und zielorientierter Werbung legen die beiden den Grundstein für den Erfolg des Seminarzentrums. 

Aufgrund finanzieller Schwierigkeiten beendet das Duo im Herbst 1992 ihre unternehmerische Tätigkeit. In einer spontanen Aktion wird das Gasthaus von Mitarbeitenden in eigener Initiative und noch ohne eigene Rechtsform übernommen und weitergeführt. Durch die Unterstützung des befreundeten Anwalts Pierre Joset gründen Christiane und Michael Wenzl gemeinsam mit Roland Muster daraufhin die Stiftung Waldhaus und führen den Seminarbetrieb in Eigenregie fort. 

Christiane und Michael als Betriebsleiter:innen, Roland als Koch bilden nun ein schlagkräftiges Grundteam, das schon bald durch Jay Goldfarb als Buchhalter und Business Consultant ergänzt wird. Dank der Unterstützung von vielen fleissigen Händen und guten Geistern beginnt das junge, noch unsichere Projekt in der traditionell bäuerlichen Umgebung des Emmentals seine Wurzeln wachsen zu lassen und seinen exotischen Duft zu verbreiten. 

Die «Waldhaus-Family» entsteht 

Während der folgenden fast 30 Jahren wird das Internationale Seminarzentrum Waldhaus zu einem Leuchtturm in der Szene der Körper- und Bewusstseinsarbeit. Das vielseitige und spannende Seminarangebot und das spezielle „Waldhaus-Gefühl“ ziehen unzählige Menschen an. Aus Gästen werden Freundinnen und Freunde, die sich “wie zuhause fühlen”, vor Ort bedeutende Impulse für ihr Leben empfangen und tiefgreifende Erfahrungen machen. Die “grosse Waldhaus-Family” entsteht und das Märchen könnte hier zu Ende sein und alles wäre gut. Aber die Welt dreht sich weiter und weiter und weiter…

So bereichernd und inspirierend das Führen eines so grossen und erfolgreichen Seminarbetrieb ist: die Arbeit hinterlässt auch Spuren und geht an die Substanz. Da das Gründer:innen-Team, viele langjährige Mitarbeiter:innen und wichtige Seminarleiter:innen ein und derselben Generation entstammen, beginnt Mitte der 2010er-Jahren die Suche nach einer Nachfolgelösung, um den Übergang in die nächste Epoche so gut wie möglich aufzugleisen. Doch die Suche gestaltet sich schwieriger als angenommen: Verschiedene Lösungsoptionen “aus innen heraus” werden angedacht und verfolgt – aber kommen letztlich doch nicht zustande. Die Suche läuft weiter… und dann kommt die Pandemie.

Der Übergang ins Heute

Wie so viele Unternehmen muss das Seminarzentrum im März 2020 quasi über Nacht seinen laufenden Betrieb einstellen. Zwar öffnet das Seminarzentrum nach der ersten Schliessung ab Juni 2020 nochmals kurz seine Pforten. Aufgrund der fortdauernden Corona-Massnahmen und der Planungsunsicherheit hat sich das Geschäftsumfeld aber so weit verschlechtert, dass an eine Weiterführung nicht mehr zu denken ist. Den Verantwortlichen wird klar, dass sie diese Krise als Chance sehen und nutzen wollen. Im April 2021 wird die Einstellung des Betriebes auf Ende des Jahres offiziell kommuniziert. 

Im Herbst 2021 lanciert die Stiftung Waldhaus einen öffentlichen Aufruf zur Einreichung von Ideen, Visionen und konkreten Konzepten, um die Liegenschaft zu übernehmen, in eine neue Epoche zu führen und so den “Spirit des Waldhauses” zu erhalten. Eines der eingereichten Konzepte trägt den Titel «Ein holistisches, regeneratives Feld der friedlichen kulturellen Transformation». Als Absender fungiert eine Gruppe von sieben jungen Erwachsenen, die sich mit dem Waldhaus verbunden fühlen, teilweise selber dort aktiv waren und die Liegenschaft fortan mit ihren Familien bewohnen möchten. Das Konzept sieht den Weiterbetrieb des Seminarbetriebes auf kleinerer Stufe vor, bettet diesen aber in ein Projekt mit sechs tragenden Säulen ein. 

Der visionäre und ganzheitliche Ansatz des noch losen Kollektivs stösst beim Stiftungsrat auf Interesse und ein intensiver Austauschprozess beginnt. Verschiedene Optionen werden geprüft und wieder verworfen, bis am Schluss die beste Lösung auf dem Tisch liegt: Das mittlerweile auf acht Personen angewachsene Kollektiv gründet die Genossenschaft Waldhaus und übernimmt so von der Stiftung Waldhaus die Aktienmehrheit an der Symposia AG, welche seit Januar 2000 die rechtliche Eigentümerin der Liegenschaft ist.

Noch bevor am 1. November 2022 der Kaufvertrag unterschrieben wird, ziehen die ersten Bewohner:innen ins Waldhaus ein und beginnen im wortwörtlichen Sinn mit der grossen Arbeit: der Transformation des Seminarzentrums in ein “Gemeinschaftsprojekt, ein Living Transformation Lab, ein bunter und inspirierender Ort zum Leben, Spielen, Schaffen, Träumen und Wachsen”.

To be continued